Krause Gedanken 4
Mein Sohn, der acht Jahre alt ist und für den als Kind bestimmte Selbstverständlichkeiten zum Glück noch nicht selbstverständlich sind, fragte mich, wie man denn einen Liter Diesel-Treibstoff für DM 1,259 bezahlen soll, wo es doch gar keine Zehntel-Pfennige gibt. Menschen mit schwächeren Nerven als ich hätten sein Argument, wie man so schön sagt, ein Stück weit nachvollzogen und ihm dann zugestimmt. Glücklicherweise war ich spontan in der Lage, ihm dieses Argument auszureden, indem ich auf die schlauen Rechenmaschinen verwies, die krumme Zahlen hervorragend runden können. Bei einem schönen Pott Tee überlegte ich mir später, es muß ein verregneter Sommerabend gewesen sein, daß diese Zehntel-Pfennig-Preise eigentlich überall eingeführt werden könnten. Arbeitslose Programmierer würden wieder in Lohn und Brot sein. Unzählige Kassen müßten umgestellt werden, ach, was sag ich, müßten verschrottet und durch neue ersetzt werden, womit man der notleidenden Kassenindustrie zu neuer Blüte verhelfen würde. Simple Verkaufsgespräche würden eine neue Tiefe erhalten ("Wieviel kostet eine Gummimaus?" - "20,9 Pfennig."). Ich stelle mir schon jetzt die klammheimliche Freude von Verkäufern vor, die ein Schwarzbrot für 3,999 DM anbieten. Sicherlich, diese neuen Neunen wären zunächst etwas erklärungs- und gewöhnungsbedürftig, klar. Aber Harlem ist schließlich auch nicht an einem Tag erbaut worden. Aber nach einiger Zeit würden die Leute sich zurücklehnen und sich daran gewöhnen, so wie man sich schon mit ganz anderen obstrusen Dingen klaglos abgefunden hat.
Aber an diesem verregneten Sommerabend hatte ich die Sache noch nicht zu Ende gedacht. Wieso soll man beim Zehntelpfennig haltmachen, wenn man auch Hundertstel- und Tausendstelpfennige nehmen kann? Und wer sagt, daß das Verfeinern von Kommastellen auf Geldbeträge beschränkt werden muß? Wer hindert uns daran, die Tagesschau um 20.00985 beginnen zu lassen? Würden nicht ganz neue Welten eröffnet werden, wenn es Schuhnummern wie 43,249 gäbe? Wahrlich, ich sage Euch, dies ist nur der Anfang.
Ich fand vor einigen Tage einen Veranstaltungshinweis auf ein Seminar, in dem es um Antworten auf rechtsradikale Lügen gehen sollte. Dort sollten z.B. Argumente gegen die von Neonazis vorgebrachte Behauptung, es seien in der Nazi-Zeit gar nicht Millionen von Juden umgebracht worden, gesammelt werden.
Auf den ersten Blick verdient ein solches Seminar natürlich den Albert-Schweitzer-Orden am Bande für Political Correctness erster Klasse. Auf den zweiten Blick immer noch. Spätestens beim neunten Blick beginnen jedoch die ersten, noch zaghaften Zweifel ihr müdes Haupt zu erheben. Weshalb, das möchte ich mit einem Gleichnis beantworten. Ich war mal zu Gast in den Alsterdorfer Anstalten in Hamburg, wo ein Arzt ein wenig aus dem Nähkästchen über die Verrückten plauderte, die dort betreut wurden. Er erzählte auch von einem alten Patienten, der im Anstaltspark immer mit einem imaginären Auto herumfuhr. Ich wiederhole: einem imaginären Auto, d.h. es existierte in Wirklichkeit kein Auto. Eines Tages fand er diesen Mann im Park, niedergeschlagen und mit hängenden Ohren. Er fragte ihn, was denn los sei. Antwort: Auto kaputt. Daraufhin nahm der Dottore eine imaginäre Kurbel und kurbelte damit den imaginären Motor wieder an und siehe da – der Verrückte fuhr glücklich von dannen. Soweit meine Alsterdorfer Anekdote. Lassen Sie uns die MAZ noch einmal zu dem Punkt zurückfahren, wo der alte Spinner deprimiert im Park sitzt. Jetzt kommt aber nicht der Psychiater vorbei, sondern der Leiter des Neonazi-Seminars. Als der Irre ihm erzählt, das Auto in ihm sei kaputt, fängt der Leiter des Neonazi-Seminars an, den Automenschen mit guten Argumenten von seiner Verrücktheit zu überzeugen. Und wenn einer von beiden nicht gestorben ist, dann sitzen sie noch heute bei Wind und Wetter im Park der Alsterdorfer Anstalten und tauschen Argumente darüber aus, ob der Automensch Recht hat oder nicht.